DER KLANG DES EINHORNS:
EIN JOKER IM SPRACHSPIEL
Lona Gaikis, 2018. Essaybeitrag in der unveröffentlichten Publikation Der Einhorn-Code. Markt und Mythos – Das Fabelwesen als Popstar (Arbeitstitel), Hg. Heinrich Dubel, Berlin.
EINLEITUNG
In jüngster Zeit tritt das Einhorn in Glitter und Regenbogenfarben, optional auch beflügelt, auffällig oft in Supermarktregalen, Spielzeugabteilungen sowie als Icon der LGBT und Queer(+)-Community, zum Vorschein. Überraschend, dass die brillantesten Geister und Denker der Sprachlogik im 20. Jahrhundert und der Aufklärung ebenfalls immer wieder mit der Existenz von Einhorn, Kobolden, Zentauren sowie der Sondergattung des Seeeinhorns – das einzig „Existente“ in der Aufzählung – beschäftigt waren (Kripke, Goodman, Carnap, Wittgenstein, Lewis, Kant). Ihnen diente die Figur als logischer Kontrapunkt zu grundlegenden semantischen Fragestellungen und den Grenzen des Wahrheitsbegriffs.
Im Disput über Faktizität, Vorstellungen, Spekulation und Zweifel, was a priori gelten gelassen werden kann und was a posteriori in den Bereich der Erfahrungen wandern sollte – so die Kritik der analytischen Philosophie der Post-Aufklärung –, rückte das Sprach-Bild des Einhorns wieder in den Blickpunkt, verbildlicht es doch die Fiktion in der logischen Analyse von Sprache.
Welchen Wert hat es nun, sich der Frage des Klangs dieses künstlichen Mischwesens zu stellen? Gibt es einen Sinn im Unmöglichen? Und – wenn ja – verläuft die Grenze dieser Wahrheit nicht womöglich bis in die feinsten Verästelungen körperlicher Empfindungen? Wenn das „realere“ an der Realität nicht Abbildbar ist, können wir es womöglich hören?
I. DAS GRÜBELN: EXISTENZBEWEIS DES EINHORNS
„Gibt es mich?“, fragt sich das Einhorn. Die unsichere Stimme rutscht verstohlen unter den hellen Stirnfransen seiner Mähne. In seinem Fall ist der Selbstzweifel nicht ganz unbegründet, denn außer ihm selbst kann niemand die Existenz seiner Gattung beweisen.
„Gibt es ein Einhorn?“, fragt Ludwig Wittgenstein. Der an diesem Punkt in seinem Leben alt und erfahren gewordene Philosoph notiert Aporien Über Gewißheit (1951) und würdigt damit den Kollegen und Sprachanalytiker G. E. Moore. Der erkannte nämlich ein Paradox im Satz erste Person Präsens, der zwar formal logisch ist, dennoch keinen Sinn ergibt: „Es ist P, aber ich glaube nicht, dass P ist“. Moore macht auf einen blinden Fleck der Sprachlogik aufmerksam, der die Annahme grundsätzlicher Gewissheiten – sogar der Selbsttäuschung – als Basis für das sinnvolle Zweifeln im Diskurs aufzeigt.[1] Wittgensteins Bezug auf Moore und sein Fragen nach dem einhörnigen Fabeltier sind überlegt und markieren die jüngere Wissenschafts- und Philosophiegeschichte mit einem geistigen Schmiss, der seinesgleichen noch nicht einmal sucht.
Sich seines Einflusses sehr wohl bewusst, fragt Wittgenstein zur Sicherheit noch einmal anders: „[W]ie weiß man, wie man sich von der Existenz des Einhorns zu überzeugen hat? Wie hat man die Methode gelernt zu bestimmen, ob etwas existiere oder nicht?“[2]
A: ‚Durch die grundsätzliche Überzeugung existierender Relationen zwischen Objekten und unter Annahme von Gewissheiten‘, hätte also Wittgenstein womöglich selbst auf diese nahezu kindliche Frage geantwortet. Denn daraus folgt B: Dass in Anbetracht der Fakten, die aus einer klar umrissenen Fragestellung resultieren und evidente sowie wiederholbare Beweise offenlegen – also durch wissenschaftliche Methode –, eine Aussage bestätigt ist. Wie stark aber wirkt die eigene Voreingenommenheit auf das Resultat ein? Welche Bedeutung haben Annahmen anderer? Nicht erst mit dem Buzzword „postfaktisch“ muss auch ein Punkt C ergänzt werden: Ein überaus starker Glaube an das Wort und das Hörensagen anderer können vermeintliche Fakten bestätigen, trüben jedoch das Erkennen der Realität. Es ist ein großes Problem, dass sprachlich formulierte Aussagen nur um ihren alleinigen Wahrheitsanspruch konkurrieren, jedoch nicht mehr um ihren Illusionen erzeugenden Charakter.
Einen überzeugenden Beweis für die Inexistenz des Einhorns bleibt uns die moderne Wissenschaft noch schuldig. Somit dient den Gnostiker*innen der Philosophie dieses Wesen als Metapher für eine Welt jenseits des Evidenten – im Sinn des Noch-nicht-Erkannten. Und so könnten sie zunächst die Beweisführung umkehren und verlangen, die Existenz des Einhorns zu widerlegen, denn nicht nur eine Reihe von Erfahrungsberichten der jüngeren Menschheitsgeschichte, auch eine Menge aktueller Sinnesdaten beweisen uns: Das Einhorn gibt es! Sichtbar zwinkert es uns zu – hörbar galoppiert und wiehert es durch die Weiten der digitalen Ebene. Es schmiegt sich an, wenn wir an der Supermarktkasse nach dem Portemonnaie greifen, und purzelt fast von alleine auf das Transportband.
„Du denkst doch – also bin ich!“, flüsterte das Einhorn Wittgenstein leise ins Ohr. Und er war sich auch nicht mehr ganz gewiss, ob er das Fabeltier noch anzweifeln kann. So lange diente seine Vorstellung zahlreicher Abenteuer wissenschaftlicher Forschung. Es hat zur Spekulation über das mögliche Unmögliche inspiriert.
Und überhaupt: Seit wann beruht ein Sprachspiel auf Gewissheit?[3]
II. HIGH-END WIRKLICHKEIT: DAS EINHORN IM BILD
Als Aristoteles 336 v. Chr. den Nacherzählungen seines Schülers Alexander des Großen zum ersten Mal lauschte, sollte er seinen Ohren kaum trauen: Die durstige Seele Ktesias aus Knidos – Mediziner in zweiter Generation, der bekanntlich zur Übertreibung neigte – hat auf seinen Reisen in Zentralasien eine ganz besondere Beobachtung gemacht.
„In Indien gibt es ein ganz aufregendes Wunderthier!“ So beginnt die Rekonstruktion des Berichts aus zweiter Hand. „Wie eine Mischung aus wildem Esel und Pferd – aber noch größer und noch mächtiger als jedes dieser Thiere – besitzt es einen weißen Körper mit leuchtend purpurrotem Kopf! Die Augen sind tiefblau und ein Horn, das am Ansatz blendend weiß und bis zur Spitze hochrot anläuft, ragt eine Elle aus seiner Stirn heraus. Das Thier – so schnell und so stark – konnte bisher weder von Menschen besiegt noch von Pferd oder Ochsen eingeholt werden, denn seine Kraft nimmt mit jedem seiner Schritte stetig zu. Zunächst erscheint es etwas langsam und wegen seiner unglaublichen Masse verlockend unbeholfen. Steht es aber auf und setzt sich in Bewegung, beschleunigt das Thier zu einer ungeheureren Kraft. Unzählige Kämpfer sind der Jagd dieses gehörnten Wesens bereits zum Opfer gefallen, weil es sich mit spitzen Stichen und Bissen zu wehren weiß. Lebendig ist es deshalb kaum einzufangen. Die Anatomie des Einhufers ist ebenfalls außerordentlich! Es hat ein besonders ausgeformtes Sprungbein – menschengleich – und andere seltsame Anomalien. Das Fleisch ist bitter, denn die Galle sitzt in der Leber, was es ungenießbar macht. Nur sein beträchtliches Horn ist zu gebrauchen. Geraspelt in Stücke als Tinktur oder Trank schützt es vor der heiligsten Krankheit, der Epilepsie, und kann sogar einen versuchten Giftmord abwenden.“[4]
So ähnlich muss Aristoteles – anerkannter Philosoph der Oberschicht und Begründer der modernen Wissenschaft – über Alexander von den Reiseerzählungen Ktesias gehört haben. Aufgrund dieser mündlichen Überlieferung sollte das neue, in Indien entdeckte Mischwesen fortan in die Reihe der Einhufer seiner antiken Lehrschrift Historia animalicum aufgenommen werden. Berichte großer Feldherren und Abenteurer bestätigten im Lauf der Zeit immer wieder die Existenz und hielten das Bild des Einhorns lebendig. Wer wollte schon am Wort der Reichen, Mächtigen und bisweilen auch Kriegslustigen zweifeln?
Das medizinische Elixier aus dem vermeintlichen Horn war als Wundermittel in Umlauf. Um das Zauberwesen jedoch mit eigenen Augen sehen zu können, musste eine Reihe besonderer Begebenheiten zusammenfallen. Vor allem war die Anwesenheit einer Jungfrau notwendig, da nur auf ihrem Schoß sich das Zaubertier niederlassen wollte. Die Sichtung war somit wenigen Auswählten vorbehalten und dieses Ereignis durchaus mit der körperlichen Potenz und Anziehungskraft seiner Eroberer verbunden.
Über Generationen hinweg war die Exklusivität des Einhorns ein sehr ernstes Anliegen, sodass sich in der Neuzeit – mit der endgültigen Ablösung antiker Weltvorstellungen von Substanz, Mythologie und stofflichen Ähnlichkeiten in Form und Natur – ein eigenständiges naturwissenschaftliches Fach aus dieser Fabel entwickelte. Aus dem Hörensagen und der Sammlung schriftlicher Erfahrungsberichte entwickelte sich das Fachgebiet der Unicornologie; das Monocerote, als fictum geboren, wurde zum tatsächlichen Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Frage, die heute nur Kinder und Philosoph*innen ernsthaft beschäftigt, wurde im Umbruch von Mittelalter zur Neuzeit so aufrichtig betrieben, dass es Kirchendogmatiker der ketzerischen Agitation und Häresie beschuldigten, trat doch der Glaube an das Tier in Konkurrenz zum göttlichen Schöpfer und allem, was damit verbunden war.
III. DAS FAKE: VOM DASEIN ÜBERHAUPT
Nicht nur die Erzählungen vom Einhorn in Augenschein respektabler Abenteurer, auch signifikante Fake-Artefakte prägten die (pseudo)wissenschaftlichen Forschungen der Neuzeit, bis die Aufklärung den Glauben an diese Untersuchungen endgültig erschütterte. Gerade im Spiegel des Einhorns lassen sich Wandlungen im Umgang mit der Vorstellungskraft und der menschlichen Fähigkeit zur Produktion fruchtbarer Illusionen – also das, was Wirklichkeit bestimmt – aufzeigen.
Zuletzt bewies ein 1663 in Deutschland gefundener Knochen-Cut-up die Existenz des Fabeltiers: In einer Höhle bei Göttingen fand man Überreste prähistorischer Säugetiere, die keinem anderen Tier als dem Einhorn zugeordnet werden konnten. Dieser erste proto-paläontologische Versuch der Wissenschaftsgeschichte hat selbst ernsthafte Naturphilosophen zu Komplizen der Unicornologie gemacht und gezeigt, wie blind man für eine Wahrheit außerhalb der eigenen Fragestellung sein kann. Sogar Gottfried Wilhelm Leibniz hat die Darstellung eben dieses falschen Einhorn-Skeletts in seine Abhandlung über die Gestalt der Erde und Naturgeschichte (Protogaea, 1691–1693) aufgenommen.[5]
Immer wieder scheint es so, als sei die Rekonstruktion einer Realität außerhalb des eigenen Erfahrungsbereichs anfällig für mehr oder weniger spektakuläre Fiktionen und sogar von höheren Wesen bestimmt. Sicherlich gibt es den Narwal mit einem wunderbar gewundenen Stoßzahn. Mag sein, dass es ein prähistorisches Landsäugetier mit ähnlichen Eigenschaften des Einhorns gab. Stichfeste Beweise in terra veritas fehlen aber gänzlich.
Aus dem Einhorn als Fakt wurde spätestens mit Immanuel Kant wieder das Einhorn der Fiktion. Für ihn war die Beweislage zwar eindeutig, dennoch machte er eine beträchtliche Beobachtung in Bezug auf die Kraft der Vorstellung in unserer sprachlichen Erfassung der Welt. Gerade dass Kants philosophische Betrachtungen beides – die Existenz Gottes sowie die des Einhorns – ins Auge fasst, macht ihn zu einem wichtigen Protagonisten auf dem Weg in die Virtualität.
Seine Argumentation in Der einzige mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) bemerkt bereits einen bezeichnenden sprachlogischen Fehlschluss in der Aussage „Ein Seeeinhorn ist ein existierendes Tier“. Nimmt man den Namen des Seeeinhorns – amphibischer Vetter des Monocerote – buchstäblich, so bemerkt Kant die eigentliche Bedeutung und paraphrasiert: „Einem gewissen existierenden Seetier kommen die Aussagen zu, die ich an einem Einhorn zusammen gedenke.“[6]
Im Sinne Kants hat die Vorstellungswelt sehr wohl Einfluss auf die sprachliche und symbolische Erfassung der Natur. In Gestalt des Einhorns verschmelzen die künstlich getrennten Sphären von Natur (fauna) und Kultur (narrativ) sowie die des Leibes und der Erfahrung (a posteriori) und die des Verstandes und der Fakten (a priori). Gerade beim transzendentalen Idealisten und Vernunft-Fanatiker muss das für allerlei Aufregung gesorgt haben. Wie wild es bereits am Vorabend der Aufklärung zuging, zeigen 1690 die Schriften ihres Vordenkers John Locke. Er bringt, neben dem Einhorn, sogar den Kobold[7] und die Meerjungfrau[8] auf die Agenda der neuen Erkenntnissuchenden. Kant aber ebnet die Karriere des Einhorns im 21. Jahrhundert und öffnet seinen Nachfolger*innen damit die Tür zur Spekulation.
Eine säkulare Generation Post-Post-Aufklärer wird den Beweisgrund Gottes zum Kontingenzbeweis erweitern und den Sinn im möglichen Unmöglichen noch weiter erkunden. Neben natürlicher Gesetze als Verankerung von Begriffen und Gegenständen in der Welt, bettet die Fiktion protosymbolisierte Artikulation – über die Abstraktion des Sprachbilds hinaus – in eine semantische Matrix, die sehr wohl eine eigene Logik besitzt, obwohl sie zunächst pure Illusion ist. Tatsächlich ist die Wahrheit ebenfalls eingebettet in das Geflecht möglicher Sinnestäuschungen, Trickspiele und selbstverständlich Erkenntnissen, deren Faktizität sich immer wieder aufs Neue stellt.
Als „Null-class“[9] oder „Aussagen/Begriffe mit Null-Extension“[10] bezeichnet die analytische Philosophie die Art der Pseudo-Meta-Logik, die nicht in der Welt der realen Dinge verortet werden kann. Ihre Elemente sind rein virtuell, existieren dennoch als Konzepte und Vorstellungen im Reich der Vernunft.[11] Nelson Goodman verdeutlichte genau das 1949 in einem Vergleich von Zentaur und Einhorn. Beide Fiktionen haben den gleichen Realitätsgehalt – nämlich keinen (Null-Extension) – und wären somit grundsätzlich austauschbar. Der Unterschied ihrer Bedeutung ist allerdings sehr relevant, betrachtet man jeweils ihr Abbild: Das Bild eines Zentauren ist mitnichten das des Einhorns![12]
Der US-Amerikaner Saul Kripke sollte, vor dem Hintergrund transzendentaler Sprachkritik und der späteren Umkehrung von Erfahrung und Urteil bei Goodman, 1972 noch einen Schritt weiter gehen. Name, Beweis, Bedeutung und Zweifel waren für diesen Vertreter des philosophischen Realismus noch volatiler, als zuvor geglaubt wurde. Nicht nur, dass ihm überaus klar war, dass keine einzige Tatsache auf die Existenz des Einhorns hindeutet; selbst ein archäologischer Fund wäre nach Kripke kein Beweis für seine Existenz gewesen.[13] Das Einhorn der Vorstellungswelt hatte doch seit Kant längst ein Eigenleben entwickelt. Die Sprachphilosophie stand vor einer neuen Problemstellung:
„So wird gesagt, daß wir zwar alle herausgefunden haben, daß es keine Einhörner gibt, daß es aber natürlich hätte Einhörner geben können. Unter bestimmten Umständen hätte es Einhörner gegeben. Und das ist ein Beispiel von etwas, was, ich meine, nicht stimmt.“[14]
Im Fall des Einhorns hat nicht einmal das Artefakt genug Beweiskraft, denn die Idee ist mindestens genauso real wie sein Göttinger Gebein und tief in die Entwicklung von Begriffen und ihrer Namensgebung sowie semantische Struktur verwickelt. Kripke folgend sollten wir niemals erfahren, ob es je ein echtes Einhorn gab oder unter welchen Umständen es dieses hätte geben können, denn die Gewissheit über den Sinn der Einhorn-Frage selbst fehlt. Der sinnvolle diskursive Zweifel über das Einhorn ist unmöglich.
IV. REALER ALS REAL: DER KLANG DES EINHORNS
Höre ich jetzt über dem Abgrund jeglicher Gewissheit – im Rausch nebulösester Andeutungen – das Einhorn atmen? Oder doch nicht? „Was?“, frage ich angestrengt und versuche das Flüstern zu verstehen. „Was willst du mir denn sagen?“
Über das Einhorn zu grübeln, hat mich für zwei Gedanken sensibilisiert: Wenn selbst die Fragen, die wir an die Realität stellen, von Illusionen und Hirngespinsten verzerrt sind, so ist es doch wahrscheinlich, dass Teile der Wirklichkeit uns als sinnlich-expressive Form außerhalb der rational erfassbaren Erfahrungswelt und deren Erkenntnisse zugänglich sind. Wo sind Indizien für eine Welt, die sich uns (noch) nicht erschlossen hat, deren Konturen wir als Phantasma aber erahnen können? Welche obskure Wahrheit verbirgt sich noch weiter hinter dem Spiegel des möglichen Unmöglichen?
Mit Gewissheit kann ich sagen: „Das Einhorn gibt es, aber ich glaube nicht, dass es das Einhorn gibt.“[15] Wenn Fiktion und Wirklichkeit vielleicht sogar reziprok zueinander sind, sollten wir dem Hirngespinst doch genauer zuhören! Als wahres fictum hat das Einhorn schon mal zu Menschenwesen gesprochen und den absurden Konsens angedeutet, auf dem die Wahrheit beruht:
Als Alice durch den Spiegel in die Anders-Welt hinübersteigt, wird sie auf einem ihrer Abenteuer auch dem Einhorn vorgeführt. Angewidert von der Gegenwart des Kindes bricht das pure Entsetzen aus ihm heraus: „Was ist – denn – das?“ Daraufhin erklärt sein Vasall Hasa untergebend, es sei ein Kind: „Erst heute gefunden! In natürlicher Größe und zweimal so echt!“ Da sagt das Einhorn: „Ich dachte immer, das seien Fabelwesen! Lebt es noch?“ Hasa erwidert: „Es kann noch sprechen!“ Das Einhorn dreht sich zu Alice und mustert sie: „Sprich, Kind!“ Alice, recht amüsiert von der Ironie der Situation, kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und antwortet dem verblüfften Einhorn: „Also weißt du, ich dachte auch immer, Einhörner seien Fabelwesen! Ich habe noch nie eins lebendig gesehen.“ Da entgegnet es: „Na, jedenfalls haben wir uns jetzt gesehen. Und wenn du an mich glaubst, glaube ich an dich. Einverstanden?“[16] Beide stimmen der Übereinkunft zu und sind sich der gegenseitigen Existenz nun absolut sicher.
Über Bilder und Artefakte hinaus, über den Klang des Einhorns zu spekulieren, ist abenteuerlich real, zumal der sinnvolle Zweifel hier nicht zu finden ist. Und eben deshalb könnte man über das Evidente hinaus fragen: „Was blieb in einer Welt, die alles sichtbar gemacht hat, noch ungehört? Wo führen uns Halluzinationen und psychoakustische Phänomene auf die Spur unerschlossener Wahrheiten, sogar neuer Logiken? Welche Frequenzen sind noch zu erschließen? Welche Klangmuster werden wir erst noch hören? Für die Philosoph*innen der Post-Post-Aufklärung ist klar, dass die Vorstellungswelt auf die Tatsachenwelt einwirken würde. Im Licht der Erkenntnis objektiviert der aufgeklärte Mensch die Phänomene der Welt und grenzt sich damit als Vernunftstier von ihr ab. Das „realere“ an der Realität kann aber weder als Abbild noch als Gegenstand in seiner Gänze erfasst werden. Aus der Vielzahl von Empfindungen modulieren Körper und Geist prärationale Einsichten in die Welt, die über jegliche Sprachformen hinausgehen.
Den Sinn im Unmöglichen gibt es. Und die Grenze dieser Wahrheit verläuft nicht nur bis in die feinsten Verästelungen körperlicher Empfindungen, auch die Vernunft geht aus diesem (Hirn-)Gespinst und seiner Gespenster hervor. Im Mythos des Monocerote vereinigt sich die Erotik am Fakt mit der Unterhaltsamkeit der Fiktion. Das hat häretisches Potenzial! Sein Klang repräsentiert keine Wahrheit, sondern generiert einen kontinuierlich werdenden Wahrheitsbegriff. Das (noch) Nicht-Erfahrene gibt es und ich glaube auch daran! Solange dieser Satz gilt, kommt das Spiel mit der Welt und ihrer Bedeutung – das, was Wahrheit bestimmt – nicht zum Erliegen.
[1] Zwar erscheint der Sinn von Moores Paradox „I went to the pictures last Tuesday, but I don’t believe that I did“ intuitiv falsch, jedoch gibt es in der Analyse keinen logischen Konflikt beider Satzteile. Sie sind konsistent: Zu einer bestimmten Zeit kann ich sagen, dass P gilt, sowie ich sagen kann, dass ich P anzweifle. Behaupte ich P und bezweifle dies sogleich, können wir die beiden Aussagen kognitiv nicht verarbeiten und er erscheint absurd. Moores Paradox macht eine grundsätzliche Selbsttäuschung durch Sprache bewusst. Umgekehrt kann eine Lüge zu seiner widerspruchsfreien Behauptung führen, so sie richtig paraphrasiert ist (vgl. Hintikka, Jaakko, 1962. Knowledge and Belief; Sorensen, Roy A., 1988. Blindspots oder: Green, Mitchell S.; Williams, John N., eds., 2007. Moore’s Paradox: New Essays on Belief, Rationality and the First-Person).
[2] Wittgenstein, Ludwig, 1951. Über Gewißheit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970), § 476, S. 124.
[3] Vgl. ibid., § 477: „So muß man also wissen, daß die Gegenstände existieren, deren Namen man durch eine hinweisende Erklärung einem Kind beibringt. – Warum muß man’s wissen? Ist es nicht genug, daß Erfahrung später nicht das Gegenteil erweise? Warum soll denn das Sprachspiel auf einem Wissen ruhen?“
[4] Vgl. Ktesias, 1824. „Indika“. In: Photii Bibliotheca Ex Recensione Immanuelis Bekkeri. Tomus Prior. Berlin, S. 48f.
[5] Posthum veröffentlicht in: Leibniz, Gottfried W., 1749. Protogaea.
[6] Kant, Immanuel, 1763. ‚Erste Betrachtung. Vom Dasein Überhaupt‘, in Der einzige mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (Hamburg: Meiner Verlag 2011), S. 16.
[7] Locke, John, 1690. An Essay Concerning Human Understanding. Oxford: Clarendon Press, 1894. S. 519.
[8] Ibid., S. 552.
[9] Vgl. Carnap, Rudolf, 1947. Meaning and Necessity. University of Chicago Press. S. 84ff.
[10] Vgl. Goodman, Nelson, 1949. On Likeness of Meaning. Analysis, Vol. 10, No. 1. S. 3.
[11] Als Beispiel wird gerne der Konsens für Narrative in Märchen herangezogen. Wir wissen: Schneewittchen lebte bei den sieben Zwergen (Doc, Grumpy, Sleepy, Bashful, Happy, Sneezy und Dopey). Zu behaupten, sie hätte eine amour fou mit dem achten Wicht ‚Kinky‘ gehabt, wäre offensichtlich eine infame Lüge.
[12] Goodman, Nelson, 1949. On Likeness of Meaning. Analysis, Vol. 10, No. 1. S. 4.
[13] Kripke, Saul, 1972. Name Und Notwendigkeit, trans. by Ursula Wolf (Frankfurt a. M: Suhrkamp 1993). S. 33.
[14] Ibid.
[15] In diesem Fall ist die Umkehrung von Moores Paradox eine der wenigen Aussagen, die den Widerspruch des Satzes „Es ist P, aber ich glaube nicht daran“ aufhebt.
[16] Carroll, Lewis, 1871. Alice Hinter Den Spiegeln (Through the Looking-Glas), S. 107.
INSPIRATION
Salomé Voegelin (2014)
“Listening to the Inaudible: The Sound of Unicorns.”
In: Sonic Possible Worlds. Hearing the Continuum of Sound
LITERATUR
Carnap, Rudolf (1947), Meaning and Necessity
Goodman, Nelson (1949), On Likeness of Meaning
Kant, Immanuel (1763) [2011], “Vom Dasein Überhaupt” In: Der einzige mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes
Kripke, Saul (1972) [1993], Name und Notwendigkeit
Lewis, Clarence I (1929) [1956], Mind and the World Order: Outline of a Theory of Knowledge
Wittgenstein, Ludwig (1951) [1970], Über Gewißheit